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Migrationsethik: Mehr als nur eine Frage von Grenzen

In einer Welt, die zunehmend durch hohe Migrationsraten geprägt ist, stellt sich die Frage der Migrationsethik nicht nur für einzelne Nationalstaaten, sondern auch für die Weltgemeinschaft. Dieser Blogbeitrag wirft einen Blick auf die christlichen und philosophischen Wurzeln der Migrationsethik, die aktuellen Herausforderungen und wie wir als Gesellschaft damit umgehen können.

Historische und religiöse Grundlagen der Gastfreundschaft

Der Gedanke der Gastfreundschaft ist in der christlichen Tradition wie auch in anderen großen Religionen tief verwurzelt. Die Bibel ruft dazu auf, Fremde willkommen zu heißen und ihnen freundlich zu begegnen. Diese Traditionen erinnern uns daran, dass Migration kein neues Phänomen ist, sondern ein integraler Bestandteil der Menschheitsgeschichte.

In den großen Weltreligionen ist die Gastfreundschaft gegenüber Fremden ein zentrales ethisches Gebot. Im Hinduismus gilt der Gast als Gott, und trotz der historischen Stigmatisierung fremder Kulturen herrscht heute in vielen Teilen Indiens eine herzliche Gastfreundschaft. Im Judentum wird die freundliche Offenheit gegenüber Fremden stark betont, begründet in der kollektiven Erinnerung an die eigene Fremdheit und Migration. Im Islam schließlich gilt Gastfreundschaft als Pflicht, die sich auf alle Menschen erstreckt und die Aufnahme und Unterstützung von Reisenden und Bedürftigen einschließt.

Philosophische Begründungen und rechtlicher Rahmen für Migration

Die philosophischen Überlegungen zur Migrationsethik sind nicht nur vielfältig, sondern auch tief und historisch verankert. Bei Immanuel Kant findet sich der Gedanke, dass die Menschen aufgrund ihres gemeinsamen Besitzes der Erdoberfläche ein Grundrecht auf Besuch und Nichtangriff haben. Dieses Recht, das in der naturrechtlichen Idee einer ursprünglichen Gemeinschaft aller Menschen verankert ist, begründet die Pflicht zur Gastfreundschaft. Kants Gedanken bilden die Grundlage für die Idee eines Weltbürgerrechts, das allerdings nicht als uneingeschränktes Aufenthaltsrecht, sondern als Anspruch auf menschenwürdige Behandlung in fremden Ländern verstanden wird.

Friedrich Schleiermacher geht einen anderen Weg: Er verbindet die Ethik der Migration mit der anthropologischen Einsicht, dass der Mensch sowohl einen heimatlichen Bindungstrieb als auch einen natürlichen Entdeckungs- und Wandertrieb hat. Migration wird bei ihm zu einem Ausdruck menschlicher Freiheit und Entwicklung, der nicht per se als falsch, sondern als integraler Bestandteil menschlicher Existenz und Zivilisation angesehen werden kann.

Im Bereich der rechtlichen Rahmenbedingungen bilden die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das Protokoll von 1967 die wesentliche internationale Grundlage für den Flüchtlingsschutz. Diese Regelwerke definieren, wer als Flüchtling gilt und welche Rechte und Pflichten sowohl Flüchtlinge als auch Aufnahmeländer haben. In Deutschland ist das im Grundgesetz verankerte Asylrecht eine zentrale rechtliche Säule. Die Änderungen des Asylrechts in den 1990er Jahren, insbesondere die Einführung der Drittstaatenregelung, haben jedoch zu einer Verschärfung der Bedingungen geführt.

Auf europäischer Ebene bildet das Dublin-Abkommen einen wesentlichen rechtlichen Rahmen, der festlegt, welches EU-Land für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Diese Regelung hat weitreichende Auswirkungen auf die Migrationsbewegungen innerhalb Europas und wird häufig kritisiert, insbesondere im Hinblick auf die Belastung der Staaten an den EU-Außengrenzen.

Die philosophischen Grundlagen und rechtlichen Rahmenbedingungen bieten einen wichtigen Ausgangspunkt für die migrationsethische Diskussion. Diese Konzepte und Gesetze müssen jedoch immer wieder neu überdacht und den realen Gegebenheiten angepasst werden. Das bedeutet, dass sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Werten der Gastfreundschaft, der Menschenwürde und der globalen Verantwortung notwendig ist.

Die Rolle der Kirchen und die aktuellen Herausforderungen

Die Kirchen in Deutschland und weltweit stehen vor der Herausforderung, ihre geschichtlichen Erfahrungen und ethischen Grundsätze in die aktuelle Migrationsdebatte einzubringen. Dazu gehören der Schutz von Flüchtlingen, die Integration von Migranten und der Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die deutschen Kirchen eine aktive Rolle bei der Unterstützung der sogenannten Heimatvertriebenen, indem sie Nächstenliebe mit der Bewältigung politischer und sozialer Herausforderungen verbanden. Dies war ein entscheidender Moment für die praktische Umsetzung einer christlichen Migrationsethik.

Während der Balkankrise in den 1990er Jahren setzten sich die Kirchen erneut stark für Flüchtlinge ein, was in dem „Gemeinsamen Wort“ von 1997 gipfelte, das zu Toleranz, Integration und der Überwindung von Fremdenfeindlichkeit aufrief.

Seit der Flüchtlingskrise 2015 haben sich die Kirchen und ihre Gemeinden erneut für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen eingesetzt, trotz des zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Gegenwindes. Die Herausforderung besteht darin, die christlichen Werte der Nächstenliebe und Gastfreundschaft mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten in Einklang zu bringen.

Verantwortung in einer vernetzten Welt: Ein Aufruf zur Menschlichkeit

Wir stehen vor einer globalen Herausforderung, die nur durch gemeinsame Anstrengungen bewältigt werden kann. Die Migrationsethik lehrt uns, dass wir nicht nur eine Verantwortung gegenüber denen haben, die zu uns kommen, sondern auch gegenüber den kommenden Generationen.

Migrationsethik ist mehr als eine politische Frage, sie ist eine Frage der Menschlichkeit. Jeder von uns kann einen Beitrag leisten, sei es durch offene Gespräche, durch die Unterstützung von Hilfsorganisationen oder einfach durch die Bereitschaft, Menschen unabhängig von ihrer Herkunft mit Respekt und Würde zu begegnen.

Der vollständige Beitrag ist erschienen im Handbuch der Religionen:

von Scheliha, Arnulf: Migrationsethik. 69. Ergänzungslieferung 2021. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Schlagwörter:

Flucht, Migration, Verantwortung, Nationalstaat, Weltbürgertum, Gastfreundschaft, Kirchenasyl

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