Wie können wir über das sprechen, was sich jeder Beschreibung entzieht? Wie finden wir Worte für das, was uns sprachlos macht – sei es die tiefe Stille der Meditation, die überwältigende Erfahrung des Göttlichen oder die schlichte Schönheit eines flüchtigen Moments? Diese Fragen stehen im Zentrum eines faszinierenden Fachartikels der Philosophin und Religionswissenschaftlerin Sybille C. Fritsch-Oppermann, erschienen im Handbuch der Religionen. Darin erkundet sie, wie Kunst – und besonders die Poesie – zu einer Brücke zwischen Kulturen, Religionen und philosophischen Traditionen werden kann. Sie zeigt, wie buddhistische Kōans, christliche Mystik und moderne Lyrik auf überraschend ähnliche Weise das „Unsagbare“ in Worte fassen – nicht, um es zu erklären, sondern um es erfahrbar zu machen. Dieser Blogbeitrag fasst die zentralen Gedanken des Artikels zusammen.
Die Leere als Quelle der Schönheit: Zen, Mystik und die Überwindung von Grenzen
Fritsch-Oppermann beginnt mit einer provokanten Idee: Die „Leere“ – ein zentraler Begriff im Buddhismus, besonders im Zen – ist nicht einfach Nichts, sondern eine Quelle von Schönheit und Bedeutung. Im Zen wird die Leere (japanisch: kū, Sanskrit: śūnyatā) nicht als Abwesenheit, sondern als eine Art „Urgrund“ aller Dinge verstanden. Alles, was existiert, ist miteinander verbunden und entsteht nur im Zusammenhang mit anderem. Diese Sichtweise durchbricht die klassische westliche Trennung von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt.
Warum ist das revolutionär?
Weil es uns einlädt, die Welt nicht als Ansammlung isolierter Dinge zu sehen, sondern als ein lebendiges Geflecht von Beziehungen. Die Philosophin verweist auf Denker wie Keiji Nishitani aus der japanischen Kyoto-Schule, der betont, dass die Leere keine „negative“ Abwesenheit ist, sondern eine dynamische, schöpferische Kraft. Ähnlich findet sich in der christlichen Mystik – etwa bei Meister Eckhart – die Idee, dass Gott nicht „da draußen“ ist, sondern im tiefsten Grund der Seele selbst.
Und die Poesie?
Sie wird hier zur „Sprache der Leere“. Gedichte, die sich mit dem Unaussprechlichen beschäftigen, nutzen oft Paradoxa – scheinbare Widersprüche, die uns zum Nachdenken bringen. Ein berühmtes Beispiel ist der Zen-Kōan: „Wenn du dem Buddha begegnest, töte ihn.“ Was bedeutet das? Vielleicht, dass wir uns von allen festen Vorstellungen lösen müssen – sogar von der Idee eines „perfekten Buddha“ –, um die Wahrheit wirklich zu erfassen.
Paradoxe Sprache: Wie Worte das Schweigen brechen
Wie kann Sprache etwas ausdrücken, das sich jeder Beschreibung entzieht? Fritsch-Oppermann zeigt, dass sowohl Zen-Meister als auch christliche Mystiker und moderne Dichter eine gemeinsame Strategie nutzen: die paradoxe Sprache.
Beispiele aus der Praxis:
- Zen-Lyrik: Der japanische Dichter Dōgen Zenji schreibt:
„Wem soll ich die Welt vergleichen? / Mondlicht, das sich in Tautropfen spiegelt, / die von einem Kranichschnabel fallen.“
Hier wird die Welt nicht erklärt, sondern gezeigt – als flüchtiger, schöner Moment, der uns die Vergänglichkeit und zugleich die Tiefe des Seins spüren lässt. - Christliche Mystik: Angelus Silesius, ein deutscher Mystiker des 17. Jahrhunderts, dichtet:
„Der Abgrund meines Geistes ruft immer mit Geschrei / Den Abgrund Gottes an: Sag, welcher tiefer sei?“
Die Frage bleibt unbeantwortet – und genau das ist der Punkt. Es geht nicht um eine Lösung, sondern um das Erleben der Unendlichkeit. - Moderne Lyrik: S. Eliot beschreibt in „The Waste Land“ eine Welt, die „brennt“ – ein Bild, das an Buddhas Lehre von der Befreiung durch Loslösung erinnert. Auch Allen Ginsberg, ein Dichter der Beat Generation, findet im Zen eine Sprache für seine Suche nach Freiheit und Sinn.
Was verbindet diese Stimmen?
Sie alle nutzen Bilder, die uns „zwischen den Zeilen“ lesen lassen. Die Worte sind wie Finger, die auf den Mond zeigen – sie selbst sind nicht das Ziel, aber sie helfen uns, hinzuschauen.
Kunst als Brücke zwischen Kulturen und Religionen
Fritsch-Oppermann argumentiert, dass Kunst – und besonders die Poesie – einen einzigartigen „dritter Raum“ schaffen kann: einen Ort, an dem sich verschiedene Traditionen begegnen, ohne sich gegenseitig zu widersprechen. Dieser „Raum“ ist weder rein buddhistisch noch rein christlich, sondern ein interkulturelles Feld, in dem Analogien und gemeinsame Fragen sichtbar werden.
Warum ist das heute wichtig?
In einer Zeit, in der Religionen oft als trenntend erlebt werden, zeigt die Kunst, wie ähnlich sich die tiefsten menschlichen Erfahrungen sind – ob in einem Zen-Kloster, einer christlichen Mystikergemeinschaft oder einem New Yorker Poesie-Slam. Die Schönheit der Leere wird so zu einer Einladung zum Dialog.
Ein konkretes Beispiel:
Die Minimal Art – ob in der Musik (wie bei John Cage) oder in der bildenden Kunst – versucht oft, den Betrachter in einen Zustand der „Nicht-Zeit“ zu versetzen. Ähnlich wie im Zen geht es darum, den Moment so intensiv zu erleben, dass die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen.
Die Schönheit des „Soseins“: Warum die Welt schön ist, gerade weil sie leer ist
Ein zentraler Gedanke des Artikels ist, dass die Schönheit der Welt nicht in ihrer „Fülle“, sondern in ihrer Leere liegt. Alles, was existiert, ist vergänglich – und gerade das macht es kostbar. Die japanische Ästhetik kennt dafür den Begriff mono no aware („das Pathos der Dinge“), das Mitgefühl für die Vergänglichkeit aller Dinge.
Wie erleben wir das?
- Wenn wir einen Sonnenuntergang betrachten und spüren, dass dieser Moment nie wiederkehrend ist.
- Wenn wir ein Gedicht lesen, das uns berührt, ohne dass wir genau sagen könnten, warum.
- Wenn wir in der Stille der Meditation erkennen, dass unser „Ich“ nur eine vorübergehende Erscheinung ist.
Die Poesie hilft uns, das zu sehen.
Sie zeigt uns die Welt nicht, wie sie „ist“, sondern wie sie erlebt wird – mit all ihren Widersprüchen, ihrer Schönheit und ihrer Leere.
Zum Schluss
Die Schönheit der Leere ist keine abstrakte Idee. Sie ist eine Einladung, das Leben mit offenen Augen und einem offenen Herzen zu begegnen. Vielleicht ist das der tiefste Sinn von Kunst, Mystik und Philosophie: uns daran zu erinnern, dass wir schon immer Teil eines größeren Ganzen sind – und dass wir, wie ein Zen-Meister sagen würde, „bereits Buddha sind“.
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