„Liberal zu sein ist so viel schwerer“ – Die Herausforderung und Bedeutung des liberalen Judentums

Das liberale Judentum, eine Bewegung, die seit dem 19. Jahrhundert tiefgreifende Veränderungen in der jüdischen Welt herbeigeführt hat, steht im Zentrum einer faszinierenden und komplexen Geschichte. Rabbiner Leo Baeck, ein bedeutender Vertreter dieser Bewegung, brachte es auf den Punkt: „Liberal zu sein ist so viel schwerer“. Dieser Ausspruch, den er 1928 auf der ersten Konferenz der World Union for Progressive Judaism in Berlin machte, spiegelt die Kernherausforderung des liberalen Judentums wider.

Die Anfänge des liberalen Judentums

Die Wurzeln des liberalen Judentums liegen im Rationalismus des 18. Jahrhunderts. Rabbiner Abraham Geiger, einer seiner bedeutendsten Vordenker, strebte danach, das Judentum neu und lebendig zu gestalten. Diese Erneuerungsbewegung, die sich aus der „Reformbewegung“ entwickelte, war ursprünglich nicht als institutionelle Identität gedacht, sondern als eine Art Zweckgemeinschaft, die für eine jüdisch-religiöse Reform eintrat.

Die Bedeutung des Liberalismus im Judentum

Die Selbstorganisation des jüdischen Liberalismus, die ihren Anfang in den Rabbinerkonferenzen zwischen 1844 und 1846 nahm, führte zur Etablierung des „Liberalen Judentums“ als Begriff nach der deutschen Reichsgründung. Dieser Begriff umfasste sowohl die Reformbewegung als auch die positiv-historische Schule. Ludwig Philippson, Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“, betonte die Übereinstimmung der sozialen und politischen Grundsätze des Judentums mit denen des modernen Liberalismus.

Liberalismus – Eine Frage des Suchens und der Vielfalt

Rabbiner Leo Baeck hob hervor, dass das liberale Judentum immer die Pflicht und die Kraft des Suchens betont hat. Er sprach von der Bedeutung der Jahrtausende für die jüdische Gemeinschaft und der Notwendigkeit, diese Tradition nicht für kurzfristige Trends aufzugeben. Gleichzeitig aber sollte das Suchen nach neuen Formen der Andacht und der Gestaltung des Gottesdienstes gefördert werden. Baeck kritisierte auch, dass der Begriff „Liberalismus“ oft ironisch verwendet wird, um einen Mangel an festen Überzeugungen zu implizieren. Für ihn bedeutete Liberalismus jedoch eine stetige Suche nach Verwirklichung von Idealen und Pflichten.

Fazit

Das liberale Judentum steht für eine tiefe Verwurzelung in der Geschichte und Tradition, gepaart mit dem Mut und der Bereitschaft zur Erneuerung. Es betont den Mehrwert von Vielfalt und tritt für Einheit in der Vielfalt ein. Die Herausforderung des Liberalismus liegt in seiner fortwährenden Suche und seiner Weigerung, sich mit einfachen, fertigen Antworten zufriedenzugeben. In dieser kontinuierlichen Auseinandersetzung und Entwicklung zeigt sich die wahre Stärke und Bedeutung des liberalen Judentums.

Der vollständige Beitrag ist 2023 erschienen im Handbuch der Religionen:

Bomhoff, Hartmut: „Liberal zu sein ist so viel schwerer“. Zur Begriffsgeschichte von „liberal“ und „orthodox“. 78. Ergänzungslieferung 2023. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2023.

Schlagwörter:

Judentum, Konfessionalisierung, konservativ, liberal, neolog, neo-orthodox, orthodox, positiv-historisch, progressiv, Reform, Reformbewegung, Reformjudentum, Religionsgesetz, Tradition

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