Ergänzungslieferung 84
Mit der EL 84 legen wir eine weitere monothematisch ausgerichtete Ergänzungslieferung („Islam im deutschsprachigen Raum“) vor. Sie wurde von unserem Facheditor Prof. Dr. Serdar Kurnaz konzeptionell entwickelt und herausgeberisch betreut.
Dafür danken wir ihm herzlich!
Die HdR-Herausgeber
Sehr geehrte Leser*innen,
die vorliegende Einzellieferung (EL) 84 „Islam im deutschsprachigen Raum“ widmet sich den jüngsten Entwicklungen der islamischen Theologie und der akademischen Auseinandersetzung mit muslimischer Praxis in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Damit hat sie das Ziel, auf aktuelle Themen islamtheologischer Forschung auf theoretischer Ebene einzugehen und diese mit Einblicken in die muslimische Praxis in Europa zu erweitern. Dieses Ziel ergibt sich aus den jüngsten Entwicklungen der letzten zwei Dekaden: Die Etablierung der Islamischen Theologie als akademische Disziplin in der deutschsprachigen Forschungslandschaft (und darüber hinaus) hat dazu beigetragen, dass islambezogene Forschung, die bisher islam- und religionswissenschaftlich dominiert war, mit einem theologischen Zugang bereichert wurde. Daneben ergaben sich neuere Erscheinungsformen muslimischer Praxis u.a. in Europa, deren religiöse Einordnung innerhalb des islamischen Rechts mit dem technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt seit dem 20. Jahrhundert ebenfalls methodisch verändert wurde. Bekanntlich ist das islamische Recht – unabhängig von nationalstaatlichen Rechtssystemen, in denen islamrechtliche Gesetze existieren – die Disziplin, in der über die religiöse Legitimität der alltäglichen und religiösen Praxis der Muslim*innen reflektiert wird. Wir können bspw. beobachten, dass viele Themen der Umwelt- und Bioethik innerhalb islamrechtlicher Forschung und Meinungsbildung besprochen und somit neuen Formen religiös begründeter muslimischer Praxis entsteht. Die EL möchte auf beiden Ebenen muslimischen Stimmen die Möglichkeit geben, ihre diesbezüglichen Beobachtungen im deutschsprachigen Raum mit der akademischen Landschaft zu teilen.
Seit der Einführung der islamischen Theologie in Deutschland und global betrachtet seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschäftigt muslimische Autor*innen der Begriff der Tradition. So etwa wird noch heute in den meisten theologischen Einrichtungen die Wichtigkeit der muslimischen Tradition hervorgehoben, der man zugehöre, an die man wissenschaftstheoretisch wie auch inhaltlich anknüpfe und sie weiter- bzw. fortschreibe. Amir Dziri, Professor für Islamische Studien am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft der Universität Freiburg, geht in seinem interdisziplinären Beitrag an zwei Beispielen darauf ein, welchen Traditionsbegriff muslimische Autor*innen prägen. Er fragt ebenfalls, welche Möglichkeiten es gibt, von der Tradition zu sprechen, in dem er vor allem auf Talal Asads Vorstellung von „islamischer Diskurstradition“ eingeht.
Sprechen wir von der Fortschreibung islamtheologischer Traditionen, lässt sich fragen, wie sie sich mit der Einführung der islamischen Theologie als eine akademische Disziplin im deutschsprachigen Raum konkretisieren lässt. Ufuk Topkara, Juniorprofessor für Vergleichende Theologie in islamischer Perspektive am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin, geht in seinem Beitrag darauf ein, welche Rolle und welchen Einfluss interreligiöse und komparative Studien für islamtheologische Reflexionen haben. Es ist bekannt, dass die islamische Theologie in Deutschland u.a. aus interreligiösen Fragestellungen und dem Bedarf nach interreligiösem akademischen sowie praktischen Austausch entwickelt hat. Dies ist auch der Grund, weshalb einige Universitätsstandorte der islamischen Theologie Professuren für interreligiöse bzw. komparative Studien haben. Topkara geht in seinem Beitrag daher den Potentialen komparativer Studien in islamtheologischer Perspektiven nach.
Wir sehen inhaltliche Weichenstellungen und Erweiterungen nicht nur in der deutschsprachigen islamischen Theologie. Gravierende Veränderungen durch den politischen und wirtschaftlichen Wandel sowie durch technologischen sowie gesellschaftlichen Fortschritt seit dem 20. Jahrhundert haben einen enormen Einfluss darauf ausgeübt, wie muslimische Gelehrte die alltägliche und religiöse Praxis von Muslim*innen einordnen. Ahmed Gad Makhlouf, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Wien und am Seminar für Arabistik/Islamwissenschaft I der Universität Göttingen, befasst sich in seinem Beitrag mit einer neuen Form religiöser Reflexion, dem kollektiven Idschtihad. Idschtihad ist nach seiner allgemeinen Bedeutung die Bestrebung der Gelehrten, die Praxis der Muslim*innen nach islamrechtlichen Vorgaben einzuordnen und zu bewerten. Dies kann individuell oder auch kollektiv geschehen. Mit immer weiter zunehmender Komplexität der Lebensumstände der Menschen entstand der Bedarf, religiöse Fragen kollektiv zu besprechen, daneben, je nach Thema, Expert*innen aus anderen akademischen Disziplinen zu konsultieren. So etwa konnten Fragen zur Organtransplantation oder künstlicher Befruchtung nur mit Hilfe der Expertise von Mediziner*innen gelöst werden. Makhlouf geht in seinem Beitrag auf diesen kollektiven Idschtihad ein, gibt Einblicke in islamrechtliche Akademien, die sich mit der Beantwortung religiöser Fragen befassen und Muslim*innen in Europa und Amerika als auch in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften adressieren. Damit gewährt der Beitrag Einblicke in neuere Formen religiöser Meinungsfindung muslimischer Gelehrter.
Neben diesen drei Beiträgen, die sich mit Theorien und Methoden der islamischen Tradition befassen, zielen die nächsten drei Beiträge auf die Praxis von Muslim*innen ab. Als ein Beispiel für interdisziplinären Austausch und ebensolcher Forschung für die Herleitung von Meinungen zur religiösen Einordnung aktueller Fragen befassen sich Beate Anam, Berliner Institut für Islamische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Hadil Lababidi, Lecturer für islamische Medizin- und Bioethik an der Universität Zürich. Sie besprechen die islamisch geprägte Medizinethik im deutschsprachigen Raum am Beispiel von Fragen zum Lebensanfang und -ende. Ihr Fokus liegt dabei auf der Skizzierung der Forschungslinie im deutschsprachigen Raum sowie der möglichen Handlungsfelder innerhalb der Medizinethik.
Neben medizin- und bioethischen Fragen, die zu aktuellen Debatten unter den Muslim*innen gehören, nehmen auch Diskussionen um Speisevorschriften innerhalb des islamischen Rechts einen großen Raum ein. Nach dem traditionellen islamischen Recht dürfen Muslim*innen grundsätzlich alles konsumieren, solange nicht in den religiösen Quellen etwas für verboten erklärt wird. Bekannte Beispiele sind das Verbot des Alkoholkonsums und des Konsums von Schweinefleisch. Daneben wird im islamischen Recht geregelt, wie z.B. Tiere, deren Fleisch konsumiert werden darf, geschlachtet werden müssen, bspw. das Schächten. Irem Kurt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück, beschreibt in ihrem Beitrag nicht nur die Grundlagen der Speisevorschriften im islamischen Recht, woran sich Muslim*innen orientieren. Sie zeigt auch, welche Rolle dabei Halal-Zertifizierungen einnehmen – also eine Ware als islamrechtlich unbedenklich, sprich halal, markieren – und wie das Konzept der „Halal-Ernährung“ mit Rücksicht auf koranisch argumentierte Tier- und Umweltethik erweitert wird.
Schließlich geht Ayşe Almıla Akca, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik der Universität Innsbruck, in ihrem Beitrag auf einen wichtigen Ort der religiösen Praxis von Muslim*innen ein: die Moschee. Neben einer Darstellung zur Entstehung von Moscheegemeinden in Deutschland betrachtet Akca die religiöse Praxis der Muslim*innen in Moscheen aus einer praxistheologischen Sicht, wobei sie die religiöse Praxis als etwas betrachtet, das stets im Wandel ist. Akca geht auch auf die Rolle der religiösen Akteur*innen in Moscheen ein, gewährt somit Einblicke in einen Ort, der stets das Interesse und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit genießt.
Nicht nur die Themen der Artikel und ihr interdisziplinärer Ansatz geben die Vielfalt der jüngeren Entwicklungen islamischer Religiosität, Praxis und Forschung wieder. Auch die Autorinnen und Autoren der vorliegenden EL, die selbst aktiver Teil islamischer Praxis und Forschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind, bilden diese Pluralität ab. Die vorliegende EL zeigt somit einen bunten Ausschnitt zum Thema „Islam im deutschsprachigen Raum“ aus theologischer, islamwissenschaftlicher sowie praktisch-theologischer Perspektive. Ich danke den Autorinnen und Autoren für ihre wertvollen Beiträge, den Gutachtenden dieser EL und den Herausgebern sowie der Redaktion des Handbuchs der Religionen.
Serdar Kurnaz (Facheditor)
Professor für Islamisches Recht
Berliner Institut für Islamische Theologie
Humboldt-Universität zu Berlin