Fremdschämen

Frau schämt sich

Fremdschämen: Warum empfinden wir etwas als „cringeworthy“?

Gerade nach dem Erfolg von Apps wie Tiktok hört man immer häufiger Begriffe wie „cringe“, „cringy“ und „cringeworthy“ kursieren. Im vergangenen Jahr wurde der Begriff „cringe“ und seine Abwandlungen sogar zum Jugendwort des Jahres gewählt, weil er so häufig verwendet wird. Aber was genau ist „cringe“ und warum ist dieses Wort so beliebt?

Wörtlich ins Deutsche übersetzt bedeutet „cringe“ so etwas wie „erschaudern“ oder „zusammenzucken“. Verwendet wird der Ausdruck allerdings etwas anders, nämlich in Momenten, in denen man sich fremdschämt. Fremdschämen bedeutet, dass wir uns in einer peinlichen Situation entweder mit der betroffenen Person mitschämen (man spricht hier von Mit-Scham) oder aber uns stellvertretend für sie schämen, wenn die Person selber keine Scham empfindet oder ausdrückt.

Dass wir überhaupt in der Lage sind, uns fremdzuschämen, ist dabei gar nicht so selbstverständlich. Dies ist unserer Fähigkeit geschuldet, uns in andere Menschen und Lebewesen einfühlen und so Empfindungen und Gefühle mitempfinden und mitfühlen zu können. Auch das Nachempfinden oder Nachvollziehen vermuteter Gedanken und Verhaltensweisen anderer Lebewesen ist etwas, das uns bis zu einem gewissen Grad möglich ist, bei besonders empathischen Menschen funktioniert dies allerdings besser als bei weniger empathischen Personen. Unser eigenes, inneres Wahrnehmungs- und Bewertungssystem spielt dabei eine bedeutende Rolle, was das Auslösen von Scham und das Bestimmen von Situationen, die dieses Gefühl hervorrufen, angeht. Scham ist nämlich sowohl sehr subjektiv, gleichzeitig gibt es ein fast schon kollektives Einverständnis darüber, was als beschämenswert gilt. Das liegt daran, dass wir uns von klein auf an den Reaktionen unserer Umwelt auf unser eigenes Verhalten, Denken und Fühlen ausrichten. Merken wir zum Beispiel, dass wir anders als die Menschen um uns herum handeln, denken oder fühlen, und wird dieses „Anderssein“ dann durch unsere Mitmenschen abgewertet, empfinden wir Scham. Deswegen wird Scham als Gefühl auch so tabuisiert in der Gesellschaft und generell als ein negatives, lästiges Gefühl empfunden. Aber Scham lässt sich nicht so einfach kategorisieren.

Scham als Weg zur Selbstentwicklung

Natürliche Scham, das heißt die ursprüngliche Scham, die natürlich, bewusst oder unbewusst begleitend auftritt, unterstützt unsere Weiterentwicklung als Menschen, da sie uns sowohl dabei hilft, über uns selbst zu reflektieren, als auch uns mit unserer Umwelt abzustimmen. Die konstruktive Auseinandersetzung mit Scham kann uns dabei helfen, unsere Empathie für und die Achtung anderer sowie die Empfindung persönlicher Freiheit, Würde und Integrität zu stärken. Deshalb ist Scham ein weitaus nützlicheres Gefühl, als ihm eigentlich zugemutet wird.

Übrigens sind es nicht nur peinliche Situationen, die ein Schamgefühl hervorrufen können. Scham kann auch mit unserer Reaktion auf etwas Neues, nicht Stimmiges, Fremdes, Ungewolltes oder Unkontrollierbares einhergehen. Oft wird das Gefühl z.B. hervorgerufen, wenn eine Diskrepanz zwischen unseren eigenen Zielen und Vorstellungen und dem tatsächlich Erreichten entsteht und wir den Eindruck haben, gescheitert zu sein. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Macht und Ohnmacht, Schicksal und Selbstbestimmung. Scham kann aber auch entstehen, wenn körperliche, seelische, gedankliche oder beziehungsrelevante Phänomene auftauchen, die weder mit unserem Selbstbild noch mit unseren Wertevorstellungen übereinstimmen. Meistens drückt sie sich als innere Unsicherheit zwischen Aspekten des Selbst und der Umwelt aus. Die Auslöser für Scham sind zahlreich und individuell. Deswegen sollte auch genauso individuell und bedachtsam mit dem Gefühl der Scham als Ganzem umgegangen werden. Eine kontraproduktive Reaktion anderer auf das eigene Schamgefühl sorgt nur für Negativität.

So gesehen senken soziale Medien durch ihren Zugang zu unendlich vielen Inhalten und Menschen womöglich unsere Schwelle dafür, was wir an anderen Menschen noch als akzeptabel empfinden und führen dazu, dass wir vorschnell Dinge und Personen als „cringy“ abstempeln. Während es natürlich auch viele Content Creators gibt, die bewusst „cringeworthy“ Inhalte produzieren, nutzen andere Menschen die Plattformen sozialer Medien vielleicht dafür, Leute mit ähnlichen Interessen zu finden. Wenn die Reaktion der Internet-Community dann überwiegend fremdschämend ist und sich über diese Menschen lustig gemacht wird, trägt dies nur dazu bei, dass immer weniger Dinge der Norm entsprechen und die Angst zu sich selbst zu stehen dafür steigt. Es lohnt sich also, sein eigenes Schamempfinden etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und damit vielleicht etwas empathischer und toleranter für die Unterschiede zwischen uns Menschen zu werden.

Wenn Sie sich weiter über das Thema Scham, seine Entstehung, Funktion und Merkmale informieren möchten, empfehlen wir Ihnen das Buch „Natürliche Scham: Der Weg zu Achtung, Würde, Werten und Integrität“ von Johann Schneider.

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Natürliche Scham: Der Weg zu Achtung, Würde, Werten und Integrität

Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, „Ich schäme mich.“? In diesem Buch beschreibt der erfahrene Autor die Unterscheidung natürlicher Scham von angelerntem Beschämtsein und Beschämen. Er nimmt Sie mit spürbarer Liebe für den Menschen und seine Umwelt mit auf den Weg, zu erkunden, wie man Beschämungen wirksam begegnen, die natürliche Scham entfalten und mit ihr eine Kultur der Achtung und Würde schaffen kann.
Das Buch ist nicht nur für professionelle Begleiter*innen sehr aufschlussreich. Es bietet auch interessierten Laien einen willkommenen Anlass, sich auf das Phänomen Scham einzulassen. Der Autor nimmt Sie mit auf die Reise, zu fühlen, zu hören, zu sehen und darüber nachzudenken was Scham ausmacht. Am Ende angekommen, werden Sie viele Einsichten gewonnen und von der Lektüre für sich persönlich profitiert haben. Sie werden Scham als Kon-Takt-Gefühl zu wertschätzen wissen.

Schneider_Autorenfoto Fremdscham
Dr. med. Johann Schneider
Jahrgang 1951, ist Lehrender Transaktionsanalytiker em., Berater, Coach und Supervisor im Teilruhestand. Er führt die Bezeichnungen Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin.

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